Scientific Kalender August 2020
Welche Ergebnisse eines Hämatologie-Analysesystems werden in der frühen Phase einer akuten bakteriellen Infektion typischerweise beobachtet?
Unreife Granulozyten und erhöhter Delta-He-Wert
Erhöhter RET-He-Wert
Neutrophilenaktivierung und erniedrigter bis negativer Delta-He-Wert
Erniedrigter MicroR-Wert
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Wissenschaftliche Hintergrundinformationen
Eine Sepsis ist eine systemische Reaktion des Organismus auf eine unkontrollierte, durch eindringende pathogene Mikroorganismen ausgelöste Infektion. Die Sepsis ist durch eine überschießende Entzündungsreaktion des Körpers auf eine systemische Infektion charakterisiert, in deren Folge der Körper seine eigenen Gewebe und Organe schädigt. Unbehandelt ist eine Sepsis lebensbedrohlich, sie kann beeindruckend schnell zu septischem Schock, multiplem Organversagen und letztlich zum Tod führen.
Bemerkenswert ist, dass eine Sepsis als Komplikation jeder beliebigen lokalen Infektion, von der Harnwegsinfektion bis hin zur Tonsillitis, auftreten kann. Die pathogenen Mikroorganismen und die von ihnen produzierten Toxine überwinden die lokalen Abwehrmechanismen des Körpers und dringen an der ursprünglichen Infektionsstelle in den peripheren Blutkreislauf ein.
Eine der Zellarten der Erstlinienabwehr der unspezifischen (angeborenen) Immunantwort des Wirtsorganismus sind die neutrophilen Granulozyten. Bei der Progression einer lokalen Infektion zu einer systemischen Infektion ist ein signifikanter Anstieg der Neutrophilenzahl und eine verstärkte Neutrophilenaktivierung zu beobachten. Aktivierte neutrophile Granulozyten migrieren durch die Gefäßwände in die infizierten Gewebe. Dort umfließen, umhüllen und phagozytieren sie die eingedrungenen Mikroorganismen und töten diese ab [1 – 3].
Wie genau läuft das ab? Die aktivierten und von unterschiedlichen Zytokinen der CXC-Klasse (z. B. Interleukin-8) angezogenen Neutrophilen bilden in den infizierten Geweben Netzwerke extrazellulärer Fasern, die als sogenannte „Neutrophil Extracellular Traps“ (NETs) bezeichnet werden [1]. Dieser Prozess wird als „NETose“ bezeichnet. NETs bestehen primär aus der exozytierten chromosomalen DNA der neutrophilen Granulozyten, die als dekondensiertes Chromatin zusammen mit anderen Proteinen in den extrazellulären Raum freigesetzt wird. In Kombination mit der Exozytose von bakteriziden Stoffen aus ihren Granula werden die neutrophilen Granulozyten durch die Ausbildung dieser NETs befähigt, Bakterien und größere pathogene Mikroorganismen wie Pilze zu „fangen“, zu phagozytieren und abzutöten. Kürzlich veröffentlichte Forschungen haben außerdem gezeigt, dass den NETs eine zentrale Bedeutung bei der Verknüpfung von Entzündung, intravaskulärer Immunität und Koagulation zukommt [2, 3]. Offenbar spielen sie eine Rolle bei der Pathogenese der disseminierten intravasalen Gerinnung (DIC), in deren Folge sich Mikrothromben ausbilden, ein Phänomen, das als Immunothrombose bezeichnet wird [2].
Die überschießende Immunantwort des Wirtsorganismus und eine fehlerhafte Signalübertragung bei der Erkennung von Pathogenen führen unter den besonderen Bedingungen einer Sepsis zu einer Überaktivierung der neutrophilen Granulozyten und in der Folge zu vielen vaskulären NETs [2, 3]. Während eines septischen Schocks kann es dadurch zu einer Hyperkoagulopathie kommen, die zu schweren Gewebeschädigungen und Organversagen führen kann.
Die beiden hämatologischen Parameter NEUT-RI (Reaktivitätsintensität der neutrophilen Granulozyten) und NEUT-GI (Granularitätsintensität der neutrophilen Granulozyten) der Sysmex XN-Serie sind Parameter der Neutrophilenaktivierung und können die frühe Erkennung einer Infektion unterstützen [3 – 5, 10].
Numerische Ergebnisse
Nachdem die Diagnose Pyelonephritis gestellt worden war, ergaben die ersten XN-Analysenergebnisse der 67-jährigen Patientin am Morgen eine leicht verringerte WBC-Zahl (3,5 x 10³/µl). Die Patientin wurde über den gesamten Tagesverlauf engmaschig überwacht, und am Nachmittag stieg die WBC-Zahl auf einen Wert von 24,4 x 10³/µl bei gleichzeitig stark erhöhter Neutrophilenzahl (21,2 x 10³/µl (ohne unreife Granulozyten) und einer leichten Thrombozytopenie. Die klassischen biochemischen Entzündungsmarker waren stark erhöht, CRP = 195 mg/dl und PCT = 177 µg/l.
Für die Beurteilung der angeborenen Immunantwort zur Abwehr von Pathogenen konnten bei der Diagnose mehrere indikative Parameter der XN-Analyse berücksichtigt werden.
NEUT-RI
Die im WDF-Kanal gemessene Neutrophilenpopulation zeigte eine stark erhöhte Aktivierung (erhöhte Fluoreszenzintensität NEUT-RI = 71,3 FI, Normbereich 39,8 – 51 FI [4]), während die Analyse der Lymphozytenparameter RE-LYMP (reaktive Lymphozyten) und AS-LYMP (antikörperbildende Lymphozyten) keine Zeichen einer Aktivierung ergab. Dies könnte typischerweise die frühe angeborene Immunreaktion auf bakterielle Pathogene bedeuten [5].
Delta-He
Delta-He errechnet sich aus der Differenz des Hämoglobingehalts der Retikulozyten (RET-He) und des Hämoglobingehalts der reifen Erythrozyten (RBC-He). Unter normalen physiologischen Bedingungen ist der Parameter Delta-He ein positiver Wert zwischen +1,4 pg und +3,7 pg [6], der bei einem Entzündungsgeschehen aber infolge des daraus resultierenden Eisenmangels innerhalb von wenigen Stunden auf einen negativen Wert absinkt [7]. Die Eisensequestration durch Bindung von Eisen an das Ferritin in Makrophagen begrenzt die Verfügbarkeit von Eisen für extrazelluläre Pathogene. Durch die Bindung von Eisen in den Makrophagen hemmt dieser Mechanismus die Bereitstellung von Eisen für die Erythropoese. Wenn Delta-He plötzlich auf einen negativen Wert abfällt, begründet dies den Verdacht, dass höchstwahrscheinlich eine Immunreaktion der akuten Phase abläuft oder dass sich ein schwerer Infektionsverlauf entwickeln könnte [8]. Danielson et al. beobachteten eine Korrelation zwischen Delta-He und den biochemischen Markern IL-6 und hs-CRP [9].
Bei der ersten Analyse der Blutprobe dieser Patientin wurde ein normaler Delta-He-Wert (Delta-He = 2,9 pg) ausgegeben. Im Verlauf der nächsten Tage verzeichnete sich jedoch ein starker Abwärtstrend, und Delta-He sank auf einen negativen Wert.
Da in einer Blutkultur Escherichia coli, Auslöser der vorangegangenen Pyelonephritis der Patientin, nachgewiesen wurden, bestätigte sich die Diagnose einer bakteriellen Sepsis. Eine Antibiotika-Therapie wurde umgehend eingeleitet, und die Patientin erhielt eine intravenöse Flüssigkeitszufuhr und weitere medizinische Interventionen.
Thrombozyten und IPF
Die zur Bestätigung des Sepsis-Verdachts durchgeführte Blutanalyse ergab zudem eine leichte Thrombozytopenie, im weiteren Verlauf sank die Thrombozytenzahl weiter ab. Die Entwicklung einer Thrombozytopenie während einer Sepsis ist ein komplexer, multifaktorieller Prozess und bei schwerkranken Patienten mit einer schlechten Prognose assoziiert. So ist z. B. eine Funktionsstörung des Gefäßendothels eine der schweren Folgen einer Sepsis und spielt eine kritische Rolle bei der Thrombozytenaktivierung und dem Thrombozytenverbrauch.
Die unreife Thrombozytenfraktion (IPF) ist ein Thrombozytenparameter, der den Anteil der jungen, unreifen Thrombozyten an der Gesamt-Thrombozytenpopulation angibt. Jüngere Studien, die in den letzten Jahren durchgeführt wurden, suggerieren, dass der IPF-Wert klinisch relevante Informationen über die Entzündungsaktivität und die Krankheitsprognose liefern kann [10 – 12]. Im Kontext der Sepsis deutete eine kürzlich durchgeführte Studie an schwerkranken Patienten darauf hin, dass der IPF-Wert ansteigt, bevor sich eine Sepsis klinisch manifestiert, und dass dieser Parameter daher nützliche klinische Informationen liefern könnte, um das Risiko für die Entwicklung von klinisch evidenten systemischen Infektionen vorauszusagen [13].
Die Tabelle zeigt ausgewählte hämatologische und biochemische Parameter der Patientin während ihres Aufenthalts auf der Intensivstation.
Scattergramm-Interpretation
Interessant an dieser Ansicht ist die Dynamik der Neutrophilenwolke (hellblau) über den abgebildeten Zeitraum. Neutrophile Granulozyten sind Zellen der Erstlinienabwehr der angeborenen Immunreaktion auf bakterielle Infektionen. Die XN-Parameter NEUT-GI und NEUT-RI reflektieren die morphologische Veränderung der Granulation und die Stoffwechselaktivität der aktivierten Neutrophilen. Dies lässt sich auch an der Form der Neutrophilenwolke erkennen (so ist die Wolke z. B. aufgrund der angestiegenen Fluoreszenzaktivität in die Länge gezogen). Eine systemische Entzündung erhöht die de novo-Produktion von Neutrophilen und verstärkt die Mobilisation von unreifen neutrophilen Granulozyten in den Blutkreislauf, ein Phänomen, das als „Notfall“-Granulopoese bezeichnet wird [14]. Dieses Phänomen kann auch bei dieser Patientin beobachtet werden, wenn wir den schnellen Anstieg der Neutrophilenzahl und den anschließenden Anstieg der unreifen neutrophilen Granulozyten (dunkelblau) in den Scattergrammen betrachten.
Dieser Fall wurde mit freundlicher Genehmigung unserer Kunden der Klinisk kemi (Abteilung für klinische Chemie) in Skåne, Schweden, abgedruckt. Wir danken unseren Kunden herzlich für ihren Beitrag zu unserem Scientific Kalender.
Literatur
[1] Brinkmann V et al. (2004): Neutrophil extracellular traps kill bacteria. Science. 303(5663):1532‐1535.
[2] Delabranche X et al. (2017): Evidence of Netosis in Septic Shock-Induced Disseminated Intravascular Coagulation. SHOCK. 47(3):313-317.
[3] Stiel L et al. (2016): Neutrophil Fluorescence: A New Indicator of Cell Activation During Septic Shock-Induced Disseminated Intravascular Coagulation. Crit Care Med. 44(11): e1132–36.
[4] Cornet E et al. (2015): Contribution of the new XN-1000 parameters NEUT-RI and NEUT-WY for managing patients with immature granulocytes. Int J Lab Hematol. 37(5): e123-6.
[5] Ustyantseva M et al. (2019): Innovative Technologies in the Evaluation of the Neutrophil Functional Activity in Sepsis. Sysmex Journal International. 29(1): 8.
Sysmex Journal International: https://www.sysmex.co.jp/en/products_solutions/library/journal/index.html
[6] van Pelt LJ et al.: Manuscript in preparation.
[7] Interview with Adjunct Professor Dr Mathias Zimmermann, specialist in laboratory medicine and Head Physician of the Central Department for Laboratory Medicine at the DRK (German Red Cross) hospitals in Berlin. Accessed on 18.06.2020 https://www.sysmex-europe.com/n/academy/knowledge-centre/expert-interviews/haematology/tracing-iron-deficiency-part-1.html
[8] Weimann A et al. (2016): Delta-He, Ret-He and a New Diagnostic Plot for Differential Diagnosis and Therapy Monitoring of Patients Suffering from Various Disease-Specific Types of Anemia. Clin Lab. 62(4): 667.
[9] Danielson K et al. (2014): Delta-He: A novel marker of inflammation predicting mortality and ESA response in peritoneal dialysis patients. Clin Kidney J. 7(3): 275-281.
[10] Hong KH et al. (2009): Prognostic Value of Immature Platelet Fraction and Plasma Thrombo-poietin in Disseminated Intravascular Coagulation. Blood Coagul Fibrinolysis. Sep;20(6):409-14.
[11] Hubert RME et al. (2015): Association of the immature platelet fraction with sepsis diagnosis and severity. Sci Rep. 5: 8019.
[12] Muronoi T et al. (2016): Immature platelet fraction predicts coagulopathy-related platelet consumption and mortality in patients with sepsis. Thromb Res. 144: 169-75.
[13] Buoro S et al. (2018): Innovative haematological parameters for early diagnosis of sepsis in adult patients admitted in intensive care unit. J Clin Pathol. 71(4): 330.
[14] Hong CW (2017): Current Understanding in Neutrophil Differentiation and Heterogeneity. Immune Netw. 17(5):298-306.