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Vereint im Kampf gegen Epidemien

XTRA-ARTIKEL AUSGABE 2/2020

 

Desinfektion mit Säure, gegenseitiges Putzen: Ameisen haben effektive Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Krankheiten entwickelt. Welche das sind und was wir von den Tieren lernen können, erforscht die Evolutionsbiologin Prof. Dr. Sylvia Cremer

Text: Verena Fischer

Prof. Dr. Sylvia Cremer
ist Verhaltensbiologin, Evolutionsimmunologin und Forscherin am Institute of Science and Technology Austria (IST Austria) in Klosterneuburg. Seit 15 Jahren forscht sie an Ameisen und prüft, wie diese mit Krankheiten umgehen

Industrienationen und Ameisenvölker haben mehr gemeinsam, als viele glauben. Vor allem das Zusammenleben in Staaten mit hoher Bevölkerungsdichte sowie der enge Austausch untereinander ist etwas, das uns mit sozialen Insekten verbindet – eine Lebensweise, durch die sich Krankheitserreger schnell ausbreiten und Epidemien entstehen können. Studien zeigen, dass der Pathogendruck für Insekten mittlerweile immens ist: Pro Gramm Erde wurden allein etwa 5000 für Insekten tödliche Pilzsporen entdeckt.

Im Gegensatz zu uns sind Ameisen solche Krisensituationen seit Urzeiten gewohnt und haben längst wirksame Strategien zur Eindämmung entwickelt. Welche das sind und wie sehr diese den Maßnahmen während der Corona-Pandemie ähneln, zeigen Studien der Ameisenforscherin Prof. Dr. Sylvia Cremer. Die Evolutionsbiologin untersucht seit 15 Jahren, aktuell am Institute of Science and Technology Austria, wie Ameisenvölker Krankheitserreger erkennen und was sie unternehmen, um ihre Kolonie vor Epidemien zu schützen.

„Ameisen interagieren nicht zufällig mit anderen Koloniemitgliedern, sondern sind in Untergruppen organisiert, die ihrem Alter und den Aufgaben, die sie ausführen, entsprechen“, erläutert Cremer. „Während sich junge Arbeiterameisen, sogenannte Brutpfleger, um den wertvollen Nachwuchs im Zentrum der Kolonie kümmern, werden ältere Arbeiterameisen zu Sammlern, die außerhalb des Nests nach Nahrung suchen. Diese Ameisen sind den Krankheitserregern stärker ausgesetzt“, erklärt die Evolutionsimmunologin.

Vermehrter Cliquenkontakt
Zusammen mit der Universität Lausanne hat die Forscherin untersucht, wie Ameisen ihr Verhalten ändern, wenn Erreger in die Gruppe eintreten. Dafür markierten die Wissenschaftler Tausende von Ameisen mit einem Barcode-System, das eine Beobachtung aller Interaktionen ermöglichte. Infrarotkameras machten zudem jede halbe Sekunde ein Bild von den Kolonien.

Anfangs setzten die Forscher zehn Prozent aller Arbeiterameisen infektiösen Pilzsporen aus, die sich durch Kontakt schnell ausbreiteten: „Es dauerte nicht lange, bis die Ameisen die Pilzsporen bemerkten und daraufhin änderten, wie und mit wem sie interagierten“, beschreibt Cremer ihre Beobachtungen. „Der ,Cliquenkontakt‘ innerhalb der einzelnen Untergruppen wie den Sammlern oder den Brutpflegern intensivierte sich, während sich der Austausch von Insekten unterschiedlicher Tätigkeitsbereiche deutlich reduzierte.“ Auch die Kontaktdauer nahm ab.

Abstand halten, Kontakte beschränken
Im Ergebnis erreichten die Insekten über Social Distancing und Kontaktbeschränkungen, dass nur sehr wenige Ameisen eine so hohe Erregerdosis erhielten, dass sie tatsächlich erkrankten. Gleichzeitig war bei vielen Tieren eine sehr geringe Erregermenge nachweisbar, die keine Symptome verursacht, aber einen Schutz vor zukünftigen Infektionen gewährleistet.

„Dies ist die erste Studie, die zeigt, dass Insektenkolonien auf Krankheitserreger mit Organisationsänderungen reagieren und so die Infektionsausbreitung in der Kolonie reduzieren“, so Cremer. Die Analysen zeigen auch, dass besonders wichtige Ameisen wie die Königin oder junge Brutpflegeameisen von der ganzen Gruppe geschützt werden – bei ihnen war die geringste Erregerdosis feststellbar: „Interessant war, dass nicht nur infizierte, sondern auch gesunde Futtersammlerinnen den Kontakt zur Königin reduzierten“, ergänzt Cremer. Dieses Vorgehen gleicht der Strategie gegenüber Risikogruppen, die durch sehr strenge Kontaktbeschränkungen vor schweren COVID-19-Infektionen geschützt werden sollten, um einer Überlastung des Gesundheitssystems vorzubeugen.

Reinigung des Panzers
Während es bei uns vor allem die Hände sind, über die bis zu 80 Prozent aller Infektionen übertragen werden, ist es bei Ameisen die gesamte Körperoberfläche, die im Kontakt mit Artgenossen ein Ansteckungsrisiko bedeutet. Eine gründliche Reinigung des gesamten Panzers ist daher unbedingt erforderlich, um die Ausbreitung von Keimen in der Kolonie zu verhindern. Wie Ameisen dabei vorgehen, hat Sylvia Cremer mit ihrer Forschungsgruppe beobachtet, indem sie die Tiere mit dem Erreger des Pilzes Metarhizium in Kontakt brachte. Dieser heftet sich an die Körperoberfläche seines Wirts an und bildet Sporen aus, die in das Innere der Ameise wachsen, sich dort vermehren und tödliche Gifte freisetzen.

Doch bevor es so weit kommt, bemerken Ameisen den Pilz bereits und putzen diesen mit ihren Mundwerkzeugen weg, stellte das Cremer-Team fest: „Ameisen zupfen mit ihren Mundwerkzeugen infektiöse Sporen von ihrer eigenen sowie der Körperoberfläche anderer Koloniemitglieder ab“, berichtet die Forscherin. „Das soziale Putzen, auch Allogrooming genannt, ist viel effizienter als Selfgrooming, da einige Körperteile für die Ameise selbst nur schwer oder gar nicht zugänglich sind.“ Mittels der sozialen Hygienemaßnahmen gelingt es Ameisen, sich und Koloniemitglieder wirksam vor Erregern zu schützen – ganz ähnlich, wie wir es über gründliches Händewaschen zu erreichen versuchen.

„Ameisen arbeiten zusammen wie Zellen eines Körpers. Daher werden Ameisenkolonien auch als Superorganismus bezeichnet“

Prof. Dr. Sylvia Cremer

Desinfektionsmittel und Schutzkleidung
Viele Ameisen erzeugen in speziellen Drüsen saure Chemikalien. Lange Zeit nahmen Forscher an, dass die Insekten dieses Gift, das hauptsächlich aus Ameisensäure besteht, nur versprühen, um Feinde abzuwehren. Nun haben Sylvia Cremer und ihr Team in zwei Studien belegt, dass Ameisen die Säure auch dafür nutzen, um mit Krankheitserregern kontaminierte Nestgenossen zu desinfizieren. Ebenso reinigen die Insekten ihre Nestboxen vor dem Erstbezug mehrere Tage lang gründlich damit, um eine sterile Umgebung zu schaffen.

„Für uns hat sich in dem Zusammenhang die Frage gestellt, wie Ameisen diese aggressive Säure, die sie auch als chemische Waffe einsetzen, in ihrem Nest versprühen können, ohne ihre sensible Brut zu schädigen“, so Cremer. Denn während erwachsene Ameisen eine dicke Haut sowie Ameiseneier eine harte Hülle aufweisen, ist die Cuticula von Puppen dünn und durchlässig. Über Experimente konnte das Forscherteam nachweisen, dass der Seidenkokon, in den die Puppen einiger Arten eingehüllt sind, den Nachwuchs vor der Ameisensäure wirksam schützt: „Diese Strategie ist vergleichbar mit der Anwendung von Gummihandschuhen beim Putzen mit chemischen Mitteln“, erläutert Cremer. „Wir wollen Erreger so heftig wie möglich bekämpfen, gleichzeitig aber unseren Organismus bestmöglich schützen. Genauso verhält sich übrigens auch unser Immunsystem“, ergänzt Cremer. „In allen Fällen gilt es, den idealen Kompromiss zwischen Erregerabwehr und Selbstschutz zu finden.“  

Das Immunsystem stimulieren
Beim Putzen oder der Desinfektion von Nestgefährten werden Krankheitserreger leicht übertragen. In einer Studie hat Sylvia Cremer untersucht, wie sich Ameisen bei der Pflege infizierter Koloniemitglieder selbst vor Erkrankungen schützen. „In der Regel ist die Erregerdosis bei dem Pflegekontakt so gering, dass es maximal zu einer Mini-Infektion kommt, die das Immunsystem der Ameise stimuliert und Immunitäten fördert“, erklärt Cremer. „Ein Mechanismus, den der Mensch vor Erfindung moderner Impfungen mit toten oder abgeschwächten Erregern unter dem Begriff der Variolation durch Gabe geringer Erregermengen selbst praktiziert hat.“ Die Studie des Forscherteams zeigt auch, dass die Immunisierung durch Mini-Infektionen, anders als moderne Impfungen beim Menschen, auch einen Preis hat: „Kommt die Ameise in Kontakt mit einem weiteren infektiösen Erreger, so dass sie eine zweite, also eine Superinfektion erhält, kann diese besonders schwer erkranken“, erklärt Cremer.

Um dies zu vermeiden, variieren die Ameisen die Art und Weise, wie sie ihre infizierten Nestgenossen pflegen. Ist eine Ameise vor einem Pathogen geschützt, da sie gerade immunisiert ist, behandelt sie infektiöse Nestmitglieder eher mit Abknabbern. Handelt es sich aber um einen Erreger, für den die Ameise sehr anfällig ist, hilft sie infizierten Tieren, indem sie diese mit Ameisensäure desinfiziert. „Auch beim Menschen achten Pflegepersonal und Ärzte auf ihren Immunstatus, bevor sie einen Gefahrenbereich betreten. Ameisen brauchen hierzu jedoch keinen Blick in den Impfpass“, so Cremer.

„Soziale Insekten eignen sich ideal, um die Rolle von sozialen Geflechten in der Bekämpfung von Erkrankungen zu studieren“

Prof. Dr. Sylvia Cremer

Das Überleben der Königin sichern
Wenn Ameisen infizierte Koloniemitglieder weder durch Putzen noch durch Desinfektion von Erregern befreien können und die Erkrankung ausbricht, greifen die Tiere zu drastischen Maßnahmen. In einer Untersuchung konnte die Cremer-Gruppe zeigen, dass Ameisen in der Lage sind, nicht mehr heilbare Brut in einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium zu behandeln, bevor der Erreger sich so stark vermehrt, dass er sich auf weitere Koloniemitglieder ausbreitet. „Die Ameisen erkennen den veränderten Geruch der fatal infizierten Puppen und stoppen durch Injektion von Ameisensäure die Vermehrung des Erregers, wodurch die betreffende Puppe kurz vor ihrem sonst durch Krankheit eintretenden Tod aus der Kolonie entfernt wird“, erklärt Cremer.

„In einer Ameisenkolonie arbeiten Tiere nicht wie Mitglieder einer Gesellschaft, sondern eher wie Zellen eines Körpers zusammen. Einige Arbeiterinnen fungieren dabei als Immunzellen und schützen die gesamte Kolonie“, schlussfolgert Cremer. „Es gibt in Ameisenvölkern eine Trennung in die Keimbahn, also die Königin, und das Körpersoma, vertreten durch die sterilen Arbeiterinnen“. so Cremer. „So wie auch der menschliche Organismus täglich viele Zellen verliert und trotzdem intakt bleibt, solange der Verlust ersetzbar bleibt und die Keimbahn nicht betroffen ist, so verlieren auch Ameisenkolonien täglich viele Arbeiterinnen, während der Verlust der Königin den Untergang des ganzen Volks bedeuten würde.“

Summary

  • Eine hohe Bevölkerungsdichte und enge Sozialkontakte stellen Ameisen vor das Risiko, dass sich Krankheitserreger schnell ausbreiten
  • Um Epidemien vorzubeugen, setzen die Insekten auf Social Distancing, Kontaktbeschränkungen und strikte Hygienemaßnahmen
  • Durch Kontakt mit geringen Erregermengen erreichen Ameisen Immunitäten

Fotoquelle: Tim Brütsch/Universität Lausanne, Sina Metzler & Roland Ferrigato, IST Austria

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