Die Großmutter Europas und ihr Erbe
Kranke Fürsten
XTRA-ARTIKEL AUSGABE 1/2024
In Europas Herrscherhäusern kam es ab dem 19. Jahrhundert gehäuft zu Hämophilie-Fällen. Das spektakuläre Phänomen hat seitdem zu verschiedenen Zuschreibungen und Mythen geführt. Zeit für einen analytischen Blick auf die Ereignisse
Text: Tobias Hamann
Zu Zeiten Königin Victorias von Großbritannien (1819–1901) waren die einflussreichsten Adelsfamilien durch die damals gängige Heiratspolitik sehr miteinander verflochten. Die Namensgeberin des „viktorianischen Zeitalters“ regierte 64 Jahre, ihre insgesamt 40 Enkel und 88 Urenkel brachten ihr den Beinamen „Großmutter Europas“ ein. Ausgerechnet sie spielte bei der Verbreitung der Hämophilie in ihrer Familie die entscheidende Rolle. In ihrem Fall handelte es sich um die seltenere Variante Hämophilie B, also einen Mangel an Gerinnungsfaktor IX. Einer ihrer Söhne war ein Bluter, und zwei Töchter gaben als Konduktorinnen, also als Überträgerinnen, die selbst nicht erkrankt sind, die Erbkrankheit weiter. Innerhalb von zwei Generationen verbreitete sich die Bluterkrankheit von Großbritannien bis in die Herrscherhäuser Preußens, Spaniens und Russlands.
Im Fokus
Die Bluterkrankheit ist seit dem Altertum bekannt. In jüdischen Gemeinden wurden durch das Beschneidungsritual unstillbare Blutungen viel früher und systematischer entdeckt als in Europa. So sind bereits aus dem 12. Jahrhundert Überlegungen des jüdischen Gelehrten Maimonides zu den Erbgangverhältnissen der Hämophilie überliefert. Im christlichen Europa wurde die Bluterkrankheit dagegen erst im 16. Jahrhundert erwähnt. In den Fokus rückte die Krankheit in Europa und Nordamerika dann erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch den Arzt John Conrad Otto, der auch den Begriff Bluter prägte. Im deutschen Kirchheim und im schweizerischen Tenna lebten Bluterfamilien, die ausführlich untersucht wurden.
Die erste Überträgerin
Die Hämophilie als Krankheit und auch ihre erblichen Gesetzmäßigkeiten waren also Mitte des 19. Jahrhunderts bereits bekannt, als Königin Victoria 1843 ihre Tochter Alice zur Welt brachte, die erste Überträgerin der Bluterkrankheit unter den Kindern Victorias. Ob Königin Victoria selbst oder doch ihr Vater Prinz Edward Augustus von Kent an Strathearn als Ursprung der Hämophilie gilt, ist in der Forschung nicht final geklärt. Es ist möglich, dass Victoria – wie ungefähr ein Drittel aller an Hämophilie Erkrankten – die Krankheit nicht geerbt hat, sondern dass eine spontane Veränderung in den Genen, eine Mutation des X-Chromosoms, der Auslöser dafür war. Dafür spricht generell, dass Victoria selbst aus einem berühmten Adelsgeschlecht stammte und davon auszugehen ist, dass ein Hämophilie-Fall in ihrer Familie schriftlich festgehalten worden wäre. Denkbar ist aber auch, dass die Mutation bereits bei der Keimzellenbildung von Victorias Vater entstanden ist. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich die Wahrscheinlichkeit für eine Neumutation bei der Spermatogenese bei einem höheren Zeugungsalter vervielfacht. Da Victorias Vater bei ihrer Geburt bereits 52 Jahre alt war, kommt also auch er als eigentlicher Ursprung infrage.
Bei Victorias Nachfahren entwickelte sich die Krankheit dann nach den erblichen Gesetzmäßigkeiten, und so brachte Victorias Tochter Alice 1870 ihren Sohn Friedrich von Hessen zur Welt und vererbte die Krankheit an ihn. „Fritz hat wieder endlose Beulen“ oder „er ist bleich und schmal aufgrund seiner Krankheit“, lauten die Beschreibungen seines Zustands mit zwei Jahren. Mit drei Jahren stirbt er bei einem Unfall.
Durch Alices Tochter Irene erreichte die Erbkrankheit das Haus der Hohenzollern. Deren zwei Söhne, also Urenkel von Königin Victoria, erbten die Krankheit ebenfalls. Der 1900 geborene Heinrich von Preußen, ein Neffe des deutschen Kaisers, starb im Alter von vier Jahren, nachdem er beim Spielen von einem Stuhl gefallen war: Ein solcher Sturz oder eine Quetschung kann bei einer Hämophilie innere Blutungen auslösen, die ohne Prävention oder Behandlung sehr gefährlich bis lebensbedrohlich sein können. Der Sturz des vierjährigen Heinrich hatte vermutlich zu einer tödlichen inneren Blutung geführt.
Hilflose Ärzte und Wunderheiler
Selbst die besten Ärzte standen bis Anfang des 20. Jahrhunderts der Bluterkrankheit noch hilflos gegenüber. Die Symptome der Krankheit und die Vererbungsregeln waren erforscht, aber es gab keine Behandlungsmöglichkeiten. Außer dem Anlegen von Druckverbänden und dem Verordnen von Bettruhe konnten die Mediziner nichts tun. Die adlige und vermögende Herkunft schützte nicht vor den unstillbaren Blutungen. Die Lebenserwartung für an Hämophilie Erkrankte lag bis 1940 noch bei durchschnittlich rund 15 Jahren.
Über Victorias Enkelin Alix, auch sie eine Konduktorin, gelangte die Hämophilie in das russische Herrscherhaus der Romanows. Alix heiratete 1894 den russischen Zaren Nikolaus II., und deren einziger Sohn Alexej war ebenfalls ein Bluter. Dessen Einblutungen in den Gelenken und in den großen Lendenmuskel wurden mehrfach beschrieben. Berichten zufolge war der Zarensohn mehrmals dem Tod nah. In einer Überlieferung stand Alexej bei einer geplanten Reise im Gang eines Eisenbahnwaggons und sah zum Fenster hinaus. Als der Zug anfuhr, schlug er mit dem Gesicht leicht gegen die Scheibe. Gleich darauf strömte Blut aus seiner Nase, und eine Schar Ärzte mühte sich stundenlang vergebens, die Blutung zu stillen.
Mittlerweile geht man davon aus, dass Alexej an einer schweren Form der Hämophilie gelitten hat. Die Zarenfamilie versuchte, die Krankheit zu verheimlichen, immerhin war Alexej der offizielle Thronfolger. Er durfte nicht Fahrrad fahren, nicht toben. Zwei Bedienstete passten stets auf ihn auf, zur Not trugen sie ihn sogar. In ihrer Verzweiflung wandte sich die Zarenfamilie an den bereits bekannten und berüchtigten russischen „Wunderheiler“ Rasputin.
Es gibt viele zeitgenössische Berichte darüber, wie Rasputin nur durch Zureden, durch Hypnose oder Suggestion die Blutungen des Zarensohns stoppte, selbst aus der Ferne. Mit dem heutigen Wissen um die Gerinnungsstörung wirkt Rasputins Behandlung wie die eines Scharlatans, doch damals bestätigten viele angesehene Ärzte aus St. Petersburg die Heilkraft Rasputins, der meist ungesehen über den Hintereingang zum Zarensohn gebracht wurde. Er selbst wurde zu einem einflussreichen Mann, da er – so die Überlieferung – jede Blutung Alexejs stoppte und so das Vertrauen und die Dankbarkeit der Zarin und des Zaren gewann. Aber es folgten turbulente Zeiten, und am Ende wurden sowohl Rasputin als auch Alexej samt seiner Familie ermordet.
Durch die Hochzeit von Königin Victorias Enkeltochter Victoria Eugénie mit dem spanischen König Alfons XIII. wurde die Bluterkrankheit auch an einen spanischen Thronfolger vererbt: den 1907 geborenen Alfonso von Spanien. Allerdings wurde der spanische König 1931 durch eine Revolution zur Abdankung gezwungen und Alfonso folgte ihm somit nicht auf den Thron. Er starb im amerikanischen Exil nach einem Autounfall.
Was bleibt?
Es bleibt festzuhalten, dass die Hämophilie-Fälle in den herrschenden Fürstenhäusern keine politischen Konsequenzen hatten, auch wenn die Umstände zu solchen Spekulationen einluden. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Mutter mit defektem X-Chromosom die Krankheit an einen Sohn oder eine Tochter überträgt, liegt bei 50 Prozent. Das Schicksal wollte es, dass die Erkrankten in den ersten beiden Generationen nach Victoria nicht in der ersten politischen Reihe standen, also keine herrschenden Monarchinnen und Monarchen waren. Es hätte durchaus anders laufen können: Hätte Königin Victoria die Krankheit bereits an ihre erste Tochter weitergegeben, wäre die Hämophilie womöglich an einen ihrer Söhne, den deutschen Kaiser Wilhelm II., vererbt worden.
In der Urenkelgeneration von Victoria hingegen gab es tatsächlich zwei erstgeborene Thronfolger, die die Krankheit geerbt hatten: der russische Zarensohn Alexej und der spanische Thronerbe Alfonso. Im Zuge des Ersten Weltkriegs und der Revolutionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die großen Monarchien in Europa jedoch abgeschafft, bevor die beiden auf den Thron kamen. Die Erkrankung der beiden, zumindest die schwere Form der Hämophilie bei Alexej, hätte bei der verantwortungsvollen Position weitreichende Folgen haben können.
Auch wenn die Bluterkrankheit in den Adelsfamilien sehr gut dokumentiert werden konnte und Krankheitssymptome und Vererbungsregeln bereits ausgiebig untersucht worden waren, führte dies zu keinen neuen medizinischen Erkenntnissen. Das war wohl auch das Schicksalhafte und Tragische: Reichtum und Beziehungen schützten die Opfer nicht. Die russische Zarenfamilie sah nur den Ausweg in die Esoterik.
Die großen Meilensteine in der Behandlung der Hämophilie sollten erst später kommen. Erste Versuche mit Bluttransfusionen gab es ab etwa 1840, die Blutgruppen wurden allerdings erst 1900 entdeckt. Ein Urenkel Victorias, Waldemar von Preußen (geboren 1889), der die Krankheit ebenfalls geerbt hatte, konnte mithilfe von ersten Bluttransfusionen immerhin 56 Jahre alt werden.
Bei aller Tragik für den Adel dieser Zeit kann man aber eines sagen: Die Verbreitung der Bluterkrankheit in den Fürstenhäusern im Europa des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sorgte sicherlich dafür, dass die Hämophilie als Krankheit bekannt wurde. Sie wurde später auch als „Krankheit der Könige“ bezeichnet.
Summary
- In bedeutenden europäischen Herrscherhäusern kam es zu einer Häufung von Fällen von Hämophilie B
- Eine entscheidende Rolle spielte dabei die englische Königin Victoria, die auch als „Großmutter Europas“ bezeichnet wurde
- Trotz der berühmten Erkrankten kam es zu keinen politischen Folgen